Sonntag, 23. März 2014

Anfang der Geschichte „Die Lesung“




Nacktes Entsetzen (9 Geschichten)
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Martins Schreibgruppe hatte einen ganz außergewöhnlichen Coup gelandet. G. L. Wohmann hatte zugesagt, aus dem neusten Roman zu lesen. Angesehener Autor, überwältigendes Interesse. Martin rieb sich die Hände, tanzte um ein imaginäres goldenes Buch und kannte nur noch eine Silbe: „Ja, ja, ja!“ Und mich bat er, den legendären Autor vom Bahnhof abzuholen.
Es gab da nur dieses Problemchen, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wie er aussah. Für solche Schwierigkeiten hatte ich immer ein probates Mittel parat und fragte mich, was hätte Mr. Bean an meiner Stelle gemacht? Doch bevor er mich inspirieren konnte, fuhr der Intercity aus Frankfurt auch schon ein. Vielleicht sollte ich Martin anrufen. War ja keine Schande, nicht alles zu wissen, diese kleine Lücke in meinen Kenntnissen zuzugeben. War aber leider nicht mehr möglich. Meine verfluchte Schwärmerei hatte mir dieses Malheur eingebrockt. Ich sofort losgebrabbelt: „G. L. Wohmann — genialer Stil, bin großer Liebhaber!“ Und immer so weiter getönt: „Genauso groß wie Günter Grass, vielleicht sogar bedeutender.“ Ich fühlte mich zumindest in meiner Annahme sicher, dass G. L. Wohmann ein talentierter Autor sein musste, wenn Martin derart aus dem Häuschen geraten konnte. Aber sonst hatte ich keine Ahnung und schon seufzte der Zug ein letztes Mal und stand still.
Ein gutes Hirn arbeitet schnell in solchen Situationen. Und von einem amerikanischen Self-Help-Guru hatte ich gelernt, immer 80 Prozent auf die Lösung eines Problems zu verwenden. Was man mit den übrigen 20 Prozent machen soll, ist mir entfallen. Wie sieht ein Autor aus? Ich war kein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet. Aber eines war völlig klar, er wäre besoffen. Hemingway war es, Fallada war es, Dylan Thomas war es. Das war nicht allzu viel, aber immerhin eine solide Basis für meine Suche, während die Passagiere an mir vorbeigingen und zügig zum Ausgang strebten. Alles, was ich tun musste, war auf den Betrunkenen zu achten, der nicht wusste wohin.
Der Bahnsteig leerte sich. Seltsam! Übrig blieb eine einzelne Frau. Aus ihrem schwarzen Schopf leuchtete ein käsiges Gesicht. Schwarze Jacke, schwarzer Rock, eine verspätete Existentialistin. Wartete wahrscheinlich auf ihren Ehemann, während ich vor mich hinpfiff, auf die Uhr schaute und in den Taschen meiner Hose herumfingerte. Die Frau sah angespannt aus, aufgeregt, trippelte auf und ab. Dann durchwühlte sie ihre Handtasche und ein Buch kam zum Vorschein. Das war gespenstisch. Das Buch war von niemand anderem als vom großen G. L. Wohmann höchstpersönlich. Welch ein Glücksfall! Ich wollte sie gerade fragen, ob sie eine Ahnung habe, wie er aussähe, als ein massiger Mann aus dem Zug torkelte und in die Sonne blinzelte. Hut schief, Hemdzipfel aus der Hose, die Aktentasche kopfüber auf den Bahnsteig purzelnd, sang G. L. Wohmann aus vollem Halse: „Junge, komm bald wieder, komm bald wieder…“ Das nenne ich einen Schriftsteller!

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