Sonntag, 6. April 2014

Versuche (4/4 letzter Teil)


Sören drehte sich um und eilte zurück, um seine Unterlagen für die bevorstehende Sendung zu holen. Während er durch die Wagen schwankte, fragte er sich, welches Gesicht zu dem Hinterkopf gehörte. Als hätte er ihn schon mal gesehen, so kam es ihm vor, wie in einem Traum. Das Gefühl, sein Körper würde jetzt jeden Moment seine Seele ausniesen, war beklemmender als jemals zuvor — gleich werde ich es haben — das fehlende Gesicht. Aber je mehr er sein Gedächtnis malträtierte, desto wendiger schien die Erinnerung sich seinem Zugriff zu entziehen. Er war ärgerlich, als er wieder in den Speisewagen trat, mit einem Krampf im Hals, der ihn am Schlucken hinderte. Auch das bisschen Aura, das die beiden Frauen am Tisch zurückgelassen hatten, reichte nicht aus das Gesicht hervorzuzaubern. Vielleicht die nächste Prise. Ach zum Teufel mit ihr — welch ein Unsinn!
Ein Kellner trat an seinen Tisch, bemerkte etwas Glänzendes am Rand des Aschenbechers, reichte Sören mit geübtem Schwung die Karte und griff mit der Linken nach dem glitzernden Etwas. Ein Ring. Er ließ ihn in seine Westentasche gleiten und blickte sich verstohlen um. In der Küche zog er den Ring vorsichtig aus der Tasche; im trüben Licht konnte er nicht erkennen, was in der Innenseite eingraviert war. Muss Chinesisch sein, dachte er und steckte den Ring zurück in die Tasche.
Der Riesenschnauzer beobachtet Sarah mit glasigen Augen, die angefüllt schienen mit dunklem Jod.
„Was ist los?“, fragte Helga Hornung.
„Müde! Entschuldigen Sie mich, ich werde ein Nickerchen machen.“
Frau Hornung hob ihre dünnen Brauen und knabberte an ihrem Keks weiter.
Sarah lehnte ihren Kopf zurück und tat so, als würde sie schlafen. Ihre Nasenflügel glänzten und gelegentlich zuckte ihr bleiches Gesicht.
Eine halbe Stunde später wurde der Zug langsamer. Er stoppte mit einem langen Seufzer der Erleichterung. Sarah erwachte. Frau Hornung döste, ihr Mund eine schwarze Höhle. Der Mann an der Tür, sein Gesicht vom Mantel bedeckt, schlief ebenfalls, seine Beine grotesk verdreht.
Sarah leckte über ihre trockenen Lippen und rieb ihre Schläfen. Sie fuhr hoch. An ihrem Finger fehlte der Ring. Sie starrte auf ihre nackte Hand. Suchte den Sitz ab. Den Boden. Sie blickte zu den verdrehten Beinen. Der Speisewagen. Sie rannte aus dem Abteil, die Arme ausgebreitet. Schwankte durch den Gang, durchquerte einen Wagen, einen weiteren, Tränen in den Augen. Der Speisewagen war leer, die Tische abgeräumt. Ihr Ring lag nicht auf dem Tisch, nicht auf dem Boden. Später nachforschen, ob gefunden, jetzt zurück ins Abteil. Sie war am Ziel. Bahnhof Zoo.
Vom jaulenden Kreiseln des Blaulichts eingeschüchtert, fuhr das Taxi auf den Bürgersteig. An einer Litfaßsäule wieder die Werbung: Mehr Just-in-time-Service. Sarah schaute auf die Uhr. Nach der Sendung stehe Sören Grosmann noch so sehr unter Strom, dass er kaum ansprechbar sei, hatten sie ihr gesagt. Eine halbe Stunde nach dem Ende, das sei der ideale Zeitpunkt ihn zu überraschen. Zweimal huschte das Licht des Krankenwagens über Sarahs Gesicht, wischte den gespannten Ernst aus ihren Zügen und ließ bläulichen Schrecken zurück.
Ganz ruhig hatte Sören Grosmann seinen Gast zwei Minuten vor dem Ende der Sendung verabschiedet und sich an die Zuschauer gewendet.
„Meine Damen und Herren, bleiben Sie bitte an den Apparaten. In eigener Sache möchte ich eine Ankündigung machen, die sie mindestens so überraschen wird, wie der Todessturz des bekannten FDP-Politikers. Sie erinnern sich.“
Im Studio war es still, das Licht auf ihn gerichtet. Er konnte nicht verstehen, warum ihm dieser Hinterkopf aus dem Speisewagen noch immer keine Ruhe ließ. Sonst war alles klar, nur dieser blinde Fleck blieb. Dann lächelte er in die Kamera entspannter als je zuvor, öffnete seinen Mund, fand die zurechtgelegten Rosenworte zu kitschig und machte kurzen Prozess.

Nacktes Entsetzen
Thomas’ Frau verlässt ihn im Streit, um einen Dokumentarfilm im Rotlichtmilieu zu drehen. Ein neues Aktmodell posiert für Thomas. Aus diesem Arbeitsverhältnis entwickelt sich für Thomas ein Albtraum aus Misstrauen, Verdächtigungen und Paranoia.
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